Pseudofiktionalisierung: Die Autobiografie versteckt sich im Roman

Wenn ich einen Roman lese, gehe ich davon aus, dass die Handlung erfunden, also fiktional ist. Doch manchmal wird im Text selbst, im Klappentext oder in Buchbesprechungen erwähnt, dass der oder die Schreibende das eigene Leben schildert. Das irritiert mich, denn ob etwas wirklich geschehen ist oder erfunden wurde, macht für mich einen deutlichen Unterschied bei der Lektüre.

Warum bezeichnet jemand seine Autobiografie als Roman, obwohl der Text überhaupt keine fiktionalen Elemente enthält? Dahinter stehen unterschiedliche Motive: Marketing, Entlastung des Schreibenden und Abbau von Blockaden oder Schutz von Betroffenen.

Verkaufsstrategisch erscheint die Bezeichnung »Roman« vielen Verlagen erfolgsversprechender zu sein als »Autobiografie«.

Etwas Feigheit ist sicher auch dabei, wenn jemand die Fiktion vorschiebt, damit ihn niemand wegen möglicher Unzuverlässigkeit seiner Erinnerungen angreifen kann. So rechtfertigte etwa Theodor Fontane, dass er seinem Buch »Meine Kinderjahre« den Untertitel »Autobiographischer Roman« gab. Im Vorwort versichert er, alles sei »nach dem Leben gezeichnet«. Aber es könnten am Geschehen beteiligte Personen sich anders erinnern. Und da er nicht mit der »Echtheitsfrage« konfrontiert werden möchte, legt er fest: »Für etwaige Zweifler also sei es Roman!«

Pragmatisch begründet ist der Etikettenschwindel, wenn im Text erwähnte Personen geschützt werden sollen. Namen von Orten, Verwandten und Familienangehörigen, Charaktereigenschaften oder Sachverhalte lassen sich verändern und unkenntlich machen, damit Betroffene anonym bleiben.

Die Bezeichnung »Roman« kann zudem ein Selbstschutz für den Schreibenden sein. Er schirmt seine Privatsphäre ab und bewahrt sich die Freiheit, sein Leben ehrlich und ohne Schere im Kopf schildern zu können.

Sie als Autorin oder Autor entscheiden darüber, wie Ihr Text gelesen werden soll. Das Etikett »Roman« lässt Ihnen mehr Freiheiten und bietet Schutz, das Etikett »Autobiografie« signalisiert größere Wahrhaftigkeit und ermöglicht in stärkerem Maß eine emphatische Lektüre.

Mehr zum Thema lesen Sie in:

Erinnern, Strukturieren, Schreiben. So gelingt Ihre Autobiografie oder Biografie.
Norderstedt: BoD 2023, 208 Seiten, 12 Abb., 16 €
(E-Book 7,99 €), ISBN 978-3-7460-8944-7

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