Es war nicht das Klavier, es war die Posaune

Falsche Erinnerungen im autobiografischen Schreiben

»Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten.« So drastisch formulierte es der Historiker Johannes Fried. Warum das so ist? Verantwortlich dafür sind die Gefühle, die sich untrennbar mit jedem Erleben verbinden. Emotional besonders erschütternde Erlebnisse, egal ob positiv oder negativ, besitzen eine Prägekraft, die das objektive Geschehen gedanklich verändern kann. Es wird glorifiziert, verdrängt, umgedeutet oder ausgeblendet.

Die Anfälligkeit des Gehirns für Täuschungen geht so weit, dass man sich Ereignisse vergegenwärtigen kann, die erwiesenermaßen nicht stattfanden. Das wurde in Experimenten nachgewiesen. In ein Foto von der Fahrt eines Heißluftballons wurde beispielsweise ein Kinderbild der Versuchsperson hineinmontiert. Etwa die Hälfte derjenigen, denen die manipulierte Aufnahme vorgelegt wurde, erinnerte sich an das Erlebnis, manche beschrieben es detailliert. Wir lassen uns also von scheinbaren Fakten überlisten. Ein weiteres Beispiel sind Anekdoten aus dem Familienkreis. Einige werden dermaßen häufig und plastisch erzählt, dass man irgendwann glaubt, sich selbst daran erinnern zu können. Mehr darüber erfahren Sie in dem Buch von Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis.

Dass wir trotz gegenteiliger Erkenntnisse unverbrüchlich an die Zuverlässigkeit unseres Gehirns glauben, hängt außerdem damit zusammen, dass nur selten jemand unsere falschen Erinnerungen entlarvt. Und wenn es geschieht, führt das zu großem Erstaunen. Mir passierte das. Ich kann vor meinem inneren Auge ein ungemein deutliches Bild von einem klavierspielenden Mädchen in einem Zimmer im Haus der Kirchengemeinde meiner Heimatstadt aufrufen. Die starke Prägung erkläre ich mir damit, dass ich in dieser Situation zum ersten Mal live klassische Musik hörte, zum ersten Mal – im Alter von zehn Jahren – jemandem beim Klavierspiel zusah. Ich war mir absolut sicher gewesen, dass es sich bei dem Mädchen um meine Freundin Eva handelte. Als wir uns nach Jahrzehnten wiedertrafen und ich sie darauf ansprach, erfuhr ich zu meiner Überraschung, dass sie nie Klavier gespielt hat, sondern Posaune. Noch immer bin ich überzeugt, dass es diese Szene gegeben hat, nur: Wer spielte auf dem Klavier? Das wird sich vermutlich nie mehr aufklären lassen.

Wir sollten uns klarmachen: Unsere Erinnerungen sind nie deckungsgleich mit dem, was wirklich geschah, aber zumeist auch nicht völlig verkehrt. Was das Gedächtnis gespeichert hat, war auf jeden Fall bedeutsam für unser Leben, sonst hätten wir es vergessen. In einem autobiografischen Text schildern wir unsere ganz eigene, subjektive Wahrheit.

Mehr zum Thema erfahren Sie in:

Erinnern, Strukturieren, Schreiben. So gelingt Ihre Autobiografie oder Biografie.
Norderstedt: BoD 2023, 208 Seiten, 12 Abb., 16 €
(E-Book 7,99 €), ISBN 978-3-7460-8944-7

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